Kolumnen

Wir sind Fucking Mainstream. Avantgarde war gestern.

Schwingen wir also unser Genital in einen bequem sich dem Körper anschmiegenden Schlüpfer; küssen zum Abschied das Kind, streicheln den Hund über den Kopf und rufen der Frau irgendetwas zu. Das muss zum Abschied reichen.

Besteigen wir den frisch gewaschenen deutschen Sportwagen und fahren los. Richtung Mainstream. Zu einer Partie Texas Holdem No Limit. Art und Weise sowie Buy-In spielen hierbei keine Rolle. Es bleibt Poker.

Vor ein paar Jahren noch hätten wir damit für Aufsehen gesorgt, man hätte uns für Avantgardisten gehalten. Wir hätten Beifall erhalten und die Telefonnummer von der immer kopulationswilligen Nachbarin zugesteckt bekommen. Heute ist es business as usual. Wir ernten mitleidvolle Blicke in dem Wissen, das wir spätestens in zwei Stunden sowieso wieder daheim sind. Die Nachbarin rätselt, wie wir uns den deutschen Sportwagen, Baujahr 2010, überhaupt leisten können. Von Applaus ganz zu schweigen.

Ja, damals, waren wir Avantgarde; die Speerspitze einer neuen Bewegung. Die Coolen, die Helden, die Geilen. Die Outlaws in Anzug und mit Kohle. Die Besprochenen. Die Verehrten. Heute sind wir im Mainstream angekommen. Jeder spielt unser Spiel, jeder hat ein Pokerset zuhause, jeder kennt die Regeln und jeder, wirklich jeder weiß, dass es Stefan Raab nie mehr lernen wird. Keiner kennt mehr den aktuellen Nachrichtensprecher, aber jeder kennt die Stimme von Michael Körner.

Früher, ja früher. Was waren wir geil drauf. Was haben wir uns gefeiert? Heute sind wir Mittelmaß; heute spielt es jeder. Kaum noch eine Weihnachtsfeier, selbst in der mittelständigen Klempnerei, bei denen nicht die 52 Karten spätestens nach einer Stunde auf den Tisch kommen. Kaum noch eine Butterfahrt mit Rentnern, bei denen nicht um den Preis der Rheumadecken erstmal ein Heads Up gezockt wird. Kaum noch ein katholischer Gottesdienst, nachdem der Oberhirte danach nicht einen 7er Sit and Go Table mit seinen sechs Ministranten macht. Hierbei können die Wetteinsätze entsprechend differieren; das Spiel selber bleibt dasselbe. Und auch das Ziel. Spielziel. Ziel im Spiel.

Früher war es kein Spiel, früher war war Kult. Der Zeit und dem Geist voraus. Lebenseinstellung. Heute ist es Normalität. Wie Zähneputzen und zweimal die Woche die Unterwäsche wechseln. Wie Essen, Trinken und Schlafen auch.

Ja, damals. War Poker noch Aufregung pur; unbekanntes Terrain. Dadaistische Kunst mit schöngeistigen Kritikern, die aus der Entfernung erahnten, was wir so trieben. Heute unterstellen sie uns monotone Softplaypornoklassikjunkgame-Allüren. Ja, so schreibt das Feuilleton. In seinen Dossiers. Über uns. Die damaligen Helden, die innovative Spitze.

Früher haben wir uns mit großem Pomp an die Pforte zur Unterwelt gewagt; heute sind Helga und Willi aus Wuppertal-Nord unsere ständigen Begleiter. Ging es uns damals um die Kunst, so wirkt heute der Kommerz durch.

Wussten wir damals noch nichts über 3-bet-barrels und haben die Könige auch gerne mal nur gecallt; bis zum River; so erwischen wir heute die Jugend bei unverständlichem Kauderwelsch. Als 27-minütige Analyse, wie man die letzte Hand besser gespielt hätte. Fuck you. Fuck the Mainstream.

War es früher noch ein Territorium für Gesetzeslose, so ist Poker heute leuchtendes Beispiel für alle geworden. Mutiert zum Seelsorger einer ganzen Nation. Zum Bruder in schweren Zeiten, zur Mutter in glücklichen Zeiten.

Es war eine Schattenwelt des Faszinosums, welche laut und deutlich aus der Unsichtbarkeit hervorgetreten ist. War noch damals nur ein limitierter und exklusiver Zugang gewährleistet, gewährt es heute allen Dürstenden eine Audienz.

Vorbei mit Nische, vorbei mit Versteckspiel. Mainstream, offen ausgetragen. Moderne Ritterkämpfe mit entsprechenden Foren. Brot und Spiele. Zur Not auch ohne Brot.

Damals ein Gespenst, eine künstlich geschaffene Welt, zu der nur die wenigsten einen Zugang gefunden haben; heute hebt es sich aus der Menge heraus. Um trotzdem mitten in der Menge zu sein. Offen für alles. Und offen für alle. Keine bedrohlichen Schatten, keine Aura von Unheimlichkeit mehr, sondern populistische Projektionsfläche von Wünschen und Sehnsüchten. Und von gelebter Nächstenliebe. Grosses Kino statt melancholischer Liebeslieder aus dem Frankreich vor dem ersten Weltkrieg.

Vorbei mit dem expressionistischen Improvisationstheater. Wir sind keine Illusion mehr. Stattdessen mittendrin, als Massenware wie ein Groschenroman. Nur das es bei denen immer ein Happy End gibt. Immer. Und dann gehen wir wieder ausreiten.
foto mainstream 4.2.

Früher waren wir Bruder Leichtfuß, heute tragen wir Gesundheitsschuhe. Vorbei mit schunkelnder Besinnungslosigkeit, mit volkstümlichen präindustriellen Idyllen. Aus und vorbei. Heute tragen wir Verantwortung, heute sind wir zwangsläufig politisch interessiert; verschleiern uns und unsere Gewinne. Und schreien die Verluste laut hinaus, auf das uns das zuständige Finanzamt laut und deutlich vernehmen soll.

Der Sog der Masse hat uns mit seiner gewaltigen Kraft mitgenommen. Wir sind mittendrin, in eine Richtung.

Damals ein munteres, buntes, anachronistisches Chaos; gewandelt zu einem rigiden Regime, mit System. Die Werteordnung haben wir auf den Kopf gestellt. Was eben noch wichtig schien, hat schon länger ausgedient. Und sich verabschiedet. Eine grosse Umkehrung, allerdings eine sehr stille. Wir sind in der postdemokratischen Spätmoderne gelandet. Davor haben mich meine Eltern immer gewarnt.

Es wird Zeit für Skat. Oder Halma in der Highroller-Heads-Up-No-Limit-Variante. Ja. Lets go back to Avantgarde. Lasst uns wieder cool sein. Oder retro. Oder hip. Oder anders.


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