Es ist ein verregneter, kalter Herbstnachmittag im August. Unaufhörlich fallen Unmengen dicker Tropfen gnadenlos auf die Stadt. Über ihr hängt eine mächtige dunkelgraue Wolkendecke, so hoffnungslos grau, dass es schmerzt.
Draußen vor dem Hoteleingang des Reval Casino Hotels fällt mir zur Begrüßung eine Freundin, die mit ihrem Mann schon vorgereist war, jammernd in die Arme: „Das Wetter ist schon seit zwei Tagen so mies! Pokern kann man nicht vor Einbruch der Dunkelheit! Dann auch nur Cash Game nach Dealers Choice, mit abenteuerlichen einheimischen Varianten. Und das soll ein Pokerfestival sein? Wenigstens beginnt morgen endlich die Turnierserie!“
Ich muss erst einmal den Kloß meiner eigenen Enttäuschung runterschlucken. Nur nichts anmerken lassen, denn schließlich sind die beiden meinetwegen hier! Weil meine Bankroll bescheiden und der Rückkaufswert meiner Lebensversicherung auch nicht gerade ausreichend ist, um an einigen Stationen der EPT zu spielen, fahndete ich nach interessanten europäischen Alternativen. Und fand nun bei meiner Recherche Tallinn. Um Tanja wieder etwas aufzuheitern schlage ich ihr salomonisch vor, später erst einmal in der Sauna zu entspannen. „Gibt es auch keine! Keinen Wellnessbereich! Nichts!“ blafft sie mich genervt an. O.K. das sitzt!
Das Pokerangebot bleibt für heute einseitig. Das Wetter zeigt keinerlei Besserung und weil Jammern auch nichts hilft, beschließe ich einfach, die Messlatte meines Zufriedenheitslevel tiefer zu setzen. Und mir fällt direkt positiv auf, dass das Hotel und Casino immerhin im renovierten Charme der achtziger Jahre strahlt.
Auf einem Hochglanzprospekt der Stadt wirbt das Restaurant Peppersack: „Erstklassig essen in einem der ältesten Häuser Tallinns!“ Getreu der zitierten Werbung wollen wir wenigstens nicht auf die kulinarischen Köstlichkeiten des Lebens nicht verzichten.
Das Lokal im Erdgeschoß ist rustikal, geschmackvoll, eingerichtet. Mittelalterlich dekoriert. Es ist relativ düster, aber trotzdem sehr einladend und sehr atmosphärisch. Sehr angenehm! Bedient wird in historischer Tracht. Der selbst für uns Mitteleuropäer ungewohnt kühle, distanzierte Charme des Servicepersonals erweist sich als eine wiederkehrende übliche kulturelle Art und Weise. Jedoch, so ein mehrwöchiges amerikanisches Seminar: „Servicemanagement“, wäre durchaus empfehlenswert!
Die Speisekarte macht neben traditionellen estnischen Gerichten, soweit ich das beurteilen kann, auch einen kleinen Ausflug gen Süden über die Alpen nach Italien. Meine estnische – italienische Hühnerüberraschung schmeckt jedenfalls so köstlich wie bei Oma! Im Wechsel mit erstklassigem Wein und Speisen, können wir in diesem ausgefallenen Ambiente dann doch die Seele baumeln lassen. Ein lohnenswerter Besuch! Wer aber glaubt hier gibt es etwas zu unverschämt günstigen, sozialistischen Preisen, liegt komplett daneben!
Wir haben Glück! Heute schenkt uns die Sonne sogar mit einem Halblächeln Frühlingsstrahlen. Ein fast perfekter Tag für Sightseeing…
Fortsetzung folgt…